Berliner Leberring e.V. – Selbsthilfe und Informationen zur Porphyrie

Die European Conference on Rare Diseases and Orphan Products 2018 – ein Rückblick

Liebe Betroffene, liebe Leser,

Vom 10. – 12.05.2018 fand in Wien die European Conference on Rare Diseases and Orphan Products 2018, kurz: ECRD 2018, statt. Unter dem Titel “360° – leave noone behind” (360° – keiner soll zurückgelassen werden) stellten Vertreter der Gesundheitspolitik, Patientenfürsprecher, Pharma-Unternehmen, Forscher und Mediziner zahlreiche Themen rund um die seltenen Erkrankungen vor. Zwei Mitarbeiter des Berliner Leberrings e.V. haben für Sie die neuesten Informationen zusammengetragen.

 

Seltene Erkrankungen allgemein: Der Stand der Forschung

Innerhalb der letzten Jahre lässt sich auf dem Gebiet der seltenen Erkrankungen (engl.: rare diseases oder orphan diseases) ein deutlicher Trend erkennen: Es wurden so viele wissenschaftliche Studien durchgeführt, Berichte veröffentlicht, Firmen gegründet und Medikamente zugelassen wie noch nie zuvor.

Einige Neuentwicklungen, die noch nicht für die Porphyrien (speziell) eingesetzt werden, jedoch ein hohes Potenzial für die Zukunft haben, möchten wir an dieser Stelle kurz vorstellen.
Für all jene, die noch keine gesicherte Diagnose erhalten haben und sich auf der Suche nach einer Ursache für Ihre Beschwerden befinden, kann möglicherweise in Zukunft der Orphamizer oder die Plattform Health29 weiterhelfen. Es ist geplant, dass in Zukunft Hilfesuchende auf diesen Portalen einzelne Symptome oder vollständige Arztberichte einfügen können, woraufhin das System mögliche Diagnosen zurückgibt. Diese Anwendungen sollen künftig dem einzelnen Patienten wie auch den Ärzten eine Hilfestellung auf dem Weg zur richtigen Diagnose sein.
Nach einem ähnlichen Prinzip arbeitet GO FAIR: In diesem Netzwerk sollen künftig anonymisierte Patientendaten zu bestimmten seltenen Erkrankungen gesammelt und für Computer verarbeitbar gemacht werden. Damit wären Vergleiche zwischen medizinischen Verläufen von Patienten mit derselben Erkrankung weltweit möglich.
Des Weiteren wurde ein App vorgestellt, die direkt den Patienten zu Gute kommt: Betroffenen soll es ermöglicht werden, an jedem Standort in Deutschland bei spontanen gesundheitlichen Problemen den nächstgelegenen Spezialisten für ihre seltene Erkrankung zu finden. Insbesondere im Urlaub oder auf Geschäftsreisen können Patienten davon profitieren. Auch für die Suche nach Selbsthilfegruppen, zum Beispiel für die Kontaktaufnahme zu anderen Betroffenen nach einem Umzug, ist eine solche Suchmöglichkeit angedacht.
Mit der Zeit außerhalb der Kliniken und weiteren medizinischen Einrichtungen hat sich auch aparito beschäftigt. Aparito stellt sogenannte „wearables“ zur medizinischen Beobachtung Verfügung. Das bedeutet, dass kleine, am Körper tragbare Geräte wie beispielsweise Armbänder im Alltag des Patienten Daten erfassen. Diese Daten sind individuell mit den Betroffenen abzustimmen und können zum Beispiel Herzfrequenz und Puls, aber auch die körperliche Aktivität und die Schlafgewohnheiten umfassen. Vor allem Personen mit ungeklärten wiederkehrenden Beschwerden könnten hierdurch Auslöser finden.
Auf ganz andere Art befasst sich Rare Barometer, ein Programm von Eurordis (dazu später mehr), mit dem Alltagsleben Betroffener. Regelmäßig werden Umfragen zu speziellen Themen gestartet, wie zum Beispiel zum zeitlichen Mehraufwand bei Alltagstätigkeiten für Betroffene selber oder zur Pflege eines Angehörigen mit einer seltenen Erkrankung. Die Ergebnisse werden allen Teilnehmern zur Verfügung gestellt.

 

Von der Forschung zum Medikament: Zentralisiertes Verfahren zur Zulassung neuer Medikamente

Was für Erkrankte erythropoetischer Porphyrien das Scenesse ist, kann für Betroffene von akuten Porphyrien das Givosiran werden: Ein neues Medikament zur Vorbeugung von Schüben befindet sich gerade in der klinischen Testphase. Sollten die Studienergebnisse für die Wirksamkeit und Sicherheit des si-RNA basierten Medikaments sprechen, wird hierfür nach Studienabschluss eine Zulassung auf europäischer Ebene beantragt. Ein für eine seltene Erkrankung entwickeltes Medikament wie Givosiran durchläuft das sogenannte zentralisierte Verfahren. Dieses Vorgehen soll an dieser Stelle stichpunktartig erläutert werden:

  1. Pharma-Unternehmen ermittelt Bedarf an einem Medikament
  2. Pharma-Unternehmen entwickelt Medikament und erstellt Zulassungsantrag
  3. Zulassungsantrag wird bei der EMA (European Medical Agency) eingereicht
  4. Antrag wird an den Ausschuss für Humanarzneimittel weitergeleitet; dieser besteht aus Spezialisten, die aus den Mitgliedsstaaten der EU entsendet werden
  5. Ausschuss erstellt Beurteilungsbericht über den Nutzen des Medikaments
  6. Auf Grundlage des Gutachtens kann die Europäische Kommission nach Konsultierung der Mitgliedsstaaten die Zulassung in der EU erteilen

 

Übersichtsschema zum zentralen Zulassungsverfahren
Das Zentralisierte Verfahren zur Zulassung neuer Medikamente. Es besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

 

Von absoluter Wichtigkeit ist, dass das Arzneimittel auf Basis der ermittelten Daten als ungefährlich für den Betroffenen gilt. Außerdem ist für die Zulassung von Voraussetzung, dass das neue Medikament entweder einen bislang ungedeckten Bedarf deckt oder einem bestehenden Medikament gegenüber einen wesentlichen Vorteil bringt. Diese Kriterien fließen in den Beurteilungsbericht des Ausschusses ein. Zurzeit scheitern jedoch rund 50% aller beantragten Medikamente, weil Nutzen und Sicherheit des Medikaments nicht als hinreichend nachgewiesen erachtet werden.

Für die Bearbeitung der einzelnen Schritte sind rechtlich geregelte zeitliche Fristen gesetzt. Für die Erstellung des Beurteilungsberichts vom Ausschuss für Humanarzneimittel sind maximal 210 Tage vorgesehen. Die Konsultierung der EU-Mitgliedsstaaten darf bis zu 67 Tage dauern. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass nach dem Antrag auf Zulassung etwa ein dreiviertel Jahr vergehen kann, bis die Entscheidung des Verfahrens verkündet wird.

 

Schwierigkeiten bei der Zugänglichkeit zu neuen Medikamenten

Doch gerade bei seltenen Erkrankungen kann eine Zulassung nicht mit Zugänglichkeit gleichgesetzt werden. Was Betroffene von erythropoetischen Porphyrien aktuell erleben, kann auch auf Betroffene akuter Porphyrien zukommen: Ein offiziell zugelassenes Medikament ist in seiner Zulassung so eingeschränkt, dass nur wenige Patienten Zugang dazu ermöglicht ist. Das Arzneimittel unterliegt den Auflagen einer sogenannten PASS-Studie, welche die Ungefährlichkeit sicherstellen soll. Die Gründe dazu sind schnell erklärt.

Für Studien zu seltenen Erkrankungen finden sich, gegeben durch die Seltenheit, deutlich weniger geeignete Teilnehmer als zu Studien häufig auftretender Erkrankungen. Je weniger Probanden zur Verfügung stehen, desto weniger aussagekräftig sind die Studienergebnisse. Ein kurzes Beispiel:
Fall 1: Fünf Patienten bekommen ein Medikament ein Mal verabreicht, einer bekommt danach Bauchschmerzen – ob durch ein Prüfpräparat oder durch ein zuvor gegessenes, verdorbenes Lebensmittel sei dahingestellt. Ergebnis: 20% der Teilnehmer hatten nach Verabreichung Bauchschmerzen.
Fall 2: 1000 Patienten nehmen an der gleichen Studie Teil, wieder bekommt einer Bauchschmerzen. Ergebnis: 0,1% der Teilnehmer hatten nach Verabreichung Bauchschmerzen.

Stehen nur wenige Probanden zur Verfügung, kann eine höhere Sicherheit der Ergebnisse erzielt werden, wenn der Studienzeitraum verlängert wird. In diesem Beispiel würden die fünf Teilnehmer aus Fall 1 das Prüfpräparat öfter verabreicht bekommen. Angenommen, es wäre für erforderlich, insgesamt 1000 Mal das zu testende Medikament zu verabreichen: Jeder Proband würde sich 200 Mal zur Verfügung stellen müssen. Je nach Häufigkeit der angedachten Medikamentengabe kann dieser Vorgang, der nach einer vorläufigen Zulassung in einer PASS-Studie durchgeführt werden kann, Jahre andauern.

Im Umkehrschluss bedeutet das jedoch, dass alle, die nicht an der Studie teilnehmen können, unter Umständen jahrelang darauf warten müssen, bis ein Medikament allgemein zugänglich wird – sofern die Ergebnisse der PASS-Studie allen Anforderungen an ein neues Medikament gerecht werden. Deshalb ist es wichtig, dass so viele Betroffene wie möglich an der aktuellen Studie teilnehmen. Problematisch ist hierbei, dass die Studie aktuell an zwei, ab Juli möglicherweise an drei Standorten in Deutschland – Chemnitz, München und Münster – durchgeführt wird.

Dies ist vor allem mit den Kosten dafür verbunden: Ein zu Studienzwecken zugelassenes Medikament unterliegt speziellen Auflagen. Die Verabreichung darf erst erfolgen, wenn das Klinikpersonal im Umgang mit dem Medikament geschult ist und die besonderen ethischen Umstände über das möglicherweise nicht sichere Arzneimittel vermittelt wurden. Zusätzlich ist eine besondere Dokumentation Voraussetzung. Die Kosten dafür trägt in der Regel das Klinikum.
Probanden werden zwar die Kosten der Teilnahme erstattet, jedoch sehen sich viele Interessierte aufgrund ihrer gesundheitlichen Situation nicht in der Lage, an der Studie teilzunehmen.
Unter Umständen ist eine Zugänglichkeit eines Medikaments auch für ein Pharma-Unternehmen nicht attraktiv. Häufig wünschen sich einzelne Staaten beispielsweise eine andere Auswertung von Studienergebnissen, sodass insbesondere kleinere Arzneimittelunternehmen die entstehenden Kosten gegen den Nutzen abwägen.

Ein letzter Punkt, der über die Zugänglichkeit entscheidet, ist auch nach erfolgreichen Erreichen der allgemeinen Zugänglichkeit die Frage nach dem Preis: Wird ein Medikament nicht durch die Krankenkassen mitgetragen, weil der Nutzen des Patienten als eher gering eingeschätzt wird, ist bei einem hohen Preis des Medikaments die Zugänglichkeit für alle Betroffenen gefährdet.

Fazit: Damit ein Medikament zugelassen und zugänglich gemacht wird, ist es wichtig, schon früh den tatsächlichen Nutzen deutlich und begründet herauszustellen.

 

Rund um die Zulassung: Netzwerke, Initiativen etc.

Rund um das regulatorische Verfahren zur Zulassung von Medikamenten gibt es eine Reihe von Initiativen, Netzwerken und Gruppierungen, die sich für die Beschleunigung und Vereinfachung des Prozesses engagieren. Die uns bekannten werden im folgendem Absatz kurz vorgestellt.

Die PRIME (PRIority MEdicines) Initiative ist ein Programm der EMA zur schnelleren Zulassung von Medikamenten für einen bislang ungedeckten Bedarf. Darunter könnte gegebenenfalls auch ein Medikament zur Vorbeugung von Porphyrieschüben fallen.
Unter dem Namen Eurordis haben sich inzwischen bereits hunderte Selbsthilfeorganisationen zusammengeschlossen, um sich als europaweite Organisation für Menschen mit seltenen Erkrankungen einzusetzen. Eurordis steht in Dialog mit der EMA. Beispielsweise bei der Einschätzung zum Bedarf und Nutzen eines Medikaments vom Ausschuss für Humanarzneimittel können einzelne Patientenorganisationen durch Eurordis an den Ausschuss weiterempfohlen werden.
EUnetHTA bezeichnet ein Projekt, das bei der Entwicklung von medikamentösen und nicht-medikamentösen Therapien unterstützt. EUnetHTA greift zur Ermittlung von Patientensichten auf Vorschläge der Eurordis zurück.
Das IPPN (International Porphyria Patient Network) ist eine länderübergreifende Organisation, die international die Interessen aller Porphyriepatienten vertritt, und Mitglied bei Eurordis.
Eine neu ins Leben gerufene Initiative zum allgemeinen Austausch von Informationen ist die EMA Public Hearing. Bei einer solchen, von der EMA initiierten, Vortrags- und Diskussionsrunde wird eine Erkrankung in den Mittelpunkt gestellt. Ziel ist, allen Parteien eine Plattform zu bieten, um ihre Interessen aus Augenhöhe zu vertreten und somit auf allen Seiten das Verständnis zu stärken.

 

Wie sich Patienten und Patientenvertreter einbringen können

Jeder einzelne von uns kann im Rahmen seiner Möglichkeiten einen Beitrag dazu leisten, allen von Porphyrie Betroffenen zu helfen.

Sie möchten Ratsuchenden zur Seite zu stehen, alle Betroffenen und ihre Familien und Freunde zu unterstützen und ihre Interessen zu vertreten? Als Beratungsstelle und Selbsthilfegruppe möchten wir an dieser Stelle die Gelegenheit nicht verstreichen lassen, Sie herzlich dazu einzuladen, unser Team zu bereichern. Selbstverständlich aber leistet jede Selbsthilfeorganisation einen wertvollen Beitrag für unser gemeinsames Ziel.
Für diejenigen, die sich nicht zwingend an eine bestehende Organisation binden und sich dennoch intensiv einbringen möchten, bietet das durch die Eurordis ins Leben gerufene Community Advisory Board Programme (CAB) eine Möglichkeit. Eigenständige und von jeglichen Institutionen und Konzernen unabhängige CABs bestehen aus 10 – 16 Patienten bestehen, die Ihre Erfahrung in Studien und bei Neuentwicklungen einbringen. Die Aufgaben im CAB sind sehr zeitintensiv, bieten aber umfassende Einblicke in das aktuelle Geschehen und eine direkte Beteiligungsmöglichkeit. Schulungen und Hilfestellungen bei der Organisation werden durch Eurordis gegeben.
Eine weitere durch Eurordis auf die Beine gestellte Möglichkeit, die in diesem Fall die Stärkung des eigenen Engagements als Ziel gesetzt hat, bietet die Eurordis Winter School. Dieses jährliche, einwöchige Projekt richtet sich an die Weiterbildung von Patientenvertretern.

Doch es gibt auch „kleine Dinge“, die zählen. Von zu Hause aus und für jeden einzelnen durchführbar ist eine Registrierung bei für das Rare Barometer Programme.

Abschließend soll auch noch einmal auf die Phase-III-Studie zum Givosiran hingewiesen werden, die in Deutschland in Chemnitz, München und Münster durchgeführt wird. Je mehr Probanden gefunden werden, desto verlässlicher werden die daraus gewonnenen Ergebnisse sein. Ein gesichert nachgewiesener Nutzen ist Voraussetzung für eine Zulassung und eine Zulassung ist Voraussetzung für eine möglichst baldige Hilfe aller, die durch Ihre Erkrankung wiederkehrendem Leiden ausgesetzt sind.

 

Abschluss und Dank

Wir hoffen, dass dieser Artikel zur die European Conference on Rare Diseases and Orphan Products 2018 für alle Leserinnen und Leser einen Mehrwert hatte und neue Informationen und Inspirationen bieten konnte.
Wir bedanken uns für das uns und dem Thema entgegengebrachte Interesse. Wir freuen uns über Ihr Engagement in jeder Form und sind zuversichtlich, gemeinsam in Zukunft etwas bewegen zu können.